Mietergeschichten

von Sabrina Lettenmaier & Diar Nedamaldeen

Zu Besuch bei Frau Held

In Renates Helds Schlafzimmerwand ist ein Loch. Ein eiförmiger Durchbruch, um genau zu sein, hinter dem sich eine orange-rote Steppenlandschaft auftut: die schwarzen Umrisse einer Giraffe vor der untergehenden Sonne. Natürlich ist der Durchbruch nur aufgeklebt, denn gäbe es das Loch tatsächlich, würde man stattdessen in die Küche der 81-Jährigen schauen, in der sie sich vielleicht gerade eine Tasse Tee aufgießt. Solche Durchblicke zu anderen Orten und Zeiten findet man viele in Renate Helds Wohnung. Zum Beispiel im Wohnzimmer, da öffnen sich zwei hölzerne Fensterläden in eine sonnige Küstenlandschaft. Dazwischen: ein Orangenbaum und azurblaues Wasser bis zum Horizont. Das eingerahmte Bild hängt über ihrem Lesesessel. Und dann gibt es da diese Durchblicke in die Vergangenheit, zum Beispiel auf der Fotocollage im Gang. Renate mit Schulterpolstern und brünetter Dauerwelle, wie sie auf einer Bühne steht und eine Urkunde in die Kamera hält. In der Schweiz war das. Das erste Mal Urlaub im Robinson Club. Da hatte sie gerade ein Tennisturnier gewonnen. Tennis? Die Antwort beginnt mit einem Funkeln in ihren Augen. „Ja, ich hab Tennis gespielt. Mit Leidenschaft. Da hast aufd Nacht um Zehne no zu mir sogn kenna: fahrma ind Halle und spuima Tennis!“. Ein Foto weiter unten: Tochter Patrizia im Hochzeitskleid. Ganz oben links: Sohn Fritz im Schneidersitz. „Mein hübscher Sohnemann. Wenn der keine Freundin hatte, kamen am nächsten Tag in der Früh gleich die Anrufe.“.

 

Frau Held steht hier oft und schaut in die Zeit hinein: ins Heute, auf die Gesichter ihrer fünf Enkelkinder. Oder ins Damals, auf Reisefotos von Griechenland und der Türkei. Damals waren sie viel unterwegs gewesen, ihr verstorbener Mann Fritz und sie. „Ich hab einen super Mann gehabt, Gott sei Dank.“ Kurz nach dem Kennenlernen wurden sie Ehepartner und Eltern. Er mit 25, sie mit 17 Jahren. Ein Lebensmittelpunkt, der sehr früh festgesetzt wurde – aber für Renate Held genau der richtige war: „Meine Kinder… wos Scheners gibt’s goar ned.“

„Ich will in meiner Wohnung einfach in Frieden leben. Und zum Glück klappt das in unserem Haus auch“

Renate Held, Plantagenweg

Mit der Bleistift-Zeichnung über Frau Helds Bett reist man wohl am weitesten in der Zeit zurück: ein Portrait, das sie selbst als ernst dreinblickende 4-Jährige zeigt. Auch jetzt, 77 Jahre später, tut sie sich schwer damit, ihr Lachen festhalten zu lassen. Wenn es zufällig abgelichtet wird, gern – aber hier so für die Kamera? „I hass des. Grads Lachn.“. Dabei wird im Hause Held ziemlich viel gelacht. Zum Beispiel beim Gedanken an den Einzug in den Plantagenweg 14, in ihre erste Wohnung bei der Freisinger Wohnbau. 1961 war das, mitten im Winter und mit einem Loch in der Wand, in das erst später eine Gasheizung kommen sollte. Oder bei der Erinnerung an die Renovierung vor vier Jahren, als sie quasi in der Baustelle gelebt hat und morgens im Nachthemd an den Bauarbeitern vorbeigehuscht ist. Ein bisschen verrückt war das schon. Aber sie ist gut ausgekommen mit den Arbeitern. Und das passt zu ihrem Motto, das ihr gerade in Bezug auf die Nachbarschaft wichtig ist: „Ich will meinen Frieden.“. Höflich sein miteinander, Rücksicht nehmen, sich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischen. Damit kann man Frau Held glücklich machen.

 

2018 ist sie in die Hausnummer 16 umgezogen und freut sich seitdem über dreifach-verglaste Fenster, Parkettboden und Balkon: wer es auch anders kennt, für den ist das alles nicht selbstverständlich. Außerdem lässt es sich hier prima lesen. Nachmittags im Lesesessel, abends im Bett. Hunderte Seiten wandern hier wöchentlich durch ihre Fingerspitzen. Romane, Biografien, Krimis: wenn es mal zu spannend wird, legt sie das Buch auf den Beistelltisch und sich selbst auf die Couch und hört Musik. Alles und kunterbunt gerne – und im Moment oft Beerdigungslieder. Beerdigungslieder? Ja, „In Silencio“ und „Amazing Grace“ sind die aktuellen Favoriten. Lieber alles jetzt schon richten, dann haben die Kinder später keine Arbeit. Wer gerne in die Zeit schaut, landet eben auch mal in der eigenen Zukunft. Selbst wenn diese, schaut man sich die fitte Rentnerin so an, noch in weiter Ferne liegen dürfte.

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